PRINZIPIEN EINES EUROP?ISCHEN VERTRAGSRECHTS: LIBERAL, MARKTFUNKTIONAL, SOLIDARISCH ODER ...? Brigitta Lurger Readers are reminded that this work is protected by copyright. While they are free to use the ideas expressed in it, they may not copy, distribute or publish the work or part of it, in any form, printed, electronic or otherwise, except for reasonable quoting, clearly indicating thesource. Readers are permitted to make copies, electronically or printed, for personal and classroom use. Principles of a European Contract Law: liberal, market-functional, social ("solidarisch"), or ...? Abstract The project of the unification of European contract law involves a number of crucial questions concerning the principal role and function of contract law in our present European societies. These questions have neither been answered nor dealt with sufficiently in the course of the ongoing preparations for the unification of contract law in Europe. One of the most important challenges to our traditional conceptions of contract law is presented by the need to incorporate into the general rules of contract law the meanwhile huge number of contract law norms of protective character, which can be found in various national consumer protection or other statutes as well as in EC directives and EC-block exemption regulations. The author makes detailed suggestions for the incorporation of rights of information, rights of revocation and the control of the contractual fairness into the general rules of contract law. From the new body of protective contract law rules and the open standards of general contract law (good faith, Treu und Glauben, unconscionability, gute Sitten, etc.) the principle of solidarity seems to emerge as a counterprinciple to the principle of freedom of contract. This principle is not restricted to the protection of weaker parties or to the good faith standard. It includes duties of cooperation and loyality and it also applies to general default rules like the rules of breach of contract. The crucial question of where solidarity must end and the freedom to the egotistic pursuit of a party's own interests has to apply can be anwered only in parts by the theories of "Ordoliberalism" and of economic analysis of law. More appropriate concepts like the theory of a "social market" by H. Collins deal with the tasks of contract law on a more general basis by referring to the creation of a desirable society or to valuable ways of life. These latter theories are apt to deal with issues of solidarity, corrective and distributive justice, and the whole spectrum of societal interests implied in contract law. Inhalt Einleitung 1. Die Kluft zwischen dem allgemeinen Vertragsrecht und dem zwingenden sondergesetzlichen Recht zum Schutz einer Vertragspartei und der empfohlene Brückenschlag 2. Das Ph?nomen der sondergesetzlichen Entwicklungen im überblick 2.1 Informationspflichten, Werbe und Verkaufspraktiken 2.2 Widerrufsrechte 2.3 Inhaltliche Eingriffe in den Vertrag 3. Die Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Vertragsrecht 4. Die Entwicklung allgemeiner Prinzipien 5. Die Geltung des Prinzips der vertraglichen Solidarit?t im Recht der Leistungsst?rungen 6. Offene Fragen 7. L?sung der offenen Fragen mit dem Ordoliberalismus? 8. Das Markt und Vertragsmodell von Collins und die distributive Gerechtigkeit 9. Fazit Einleitung Das Projekt der Vereinheitlichung des europ?ischen Vertragsrechts wirft eine Vielzahl von Fragen auf, von welchen hier nur ein kleiner Ausschnitt zur Sprache kommen soll. Ausgespart bleiben vor allem die Fragen, wer, wann, wie und auf welcher Kompetenzgrundlage das Vertragsrecht vereinheitlichen soll oder wird. Ich werde zun?chst kurz einige Gedankeng?nge anreissen, die sich im Zusammenhang mit dem relativ jungen Ph?nomen der sondergesetzlichen und punktuellen Entwicklung von Vertragsrecht mit Schutzcharakter ergeben haben. Danach werde ich zu einer Reihe von Fragen kommen, die in diesem Zusammenhang beantwortet werden müssen. Ich werde den Ordoliberalismus zu Rate ziehen, danach das Modell des "sozialen Marktes" von Collins. Am Ende soll auf die Problematik der Rolle der distributiven Gerechtigkeit im Vertragsrecht kurz eingegangen werden. Die folgenden Ausführungen sind aus der Erkenntnis entstanden, da? insbesondere die Aufgabe der Einbeziehung von vertragsrechtlichen Bestimmungen, die Schutzcharakter besitzen, in ein allgemeines europ?isches Vertragsrecht viele grunds?tzliche Ordnungsfragen aufwirft. Diese Fragen haben bisher in den Vorbereitungsarbeiten zu einem europ?ischen Vertragsrecht kaum Beachtung gefunden. Mit dem vorliegenden Artikel sollen diese Fragen aufgezeigt sowie ein Ansto? zu ihrer Diskussion und L?sung geliefert werden. 1. Die Kluft zwischen dem allgemeinen Vertragsrecht und dem zwingenden sondergesetzlichen Recht zum Schutz einer Vertragspartei und der empfohlene Brückenschlag In den Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten entwickelt sich das Vertragsrecht schon seit mehreren Jahrzehnten auf mindestens zwei Schienen: (1) als allgemeines Vertragsrecht, das oft auf ?lteren oder sehr alten Zivilrechtskodifikationen oder auf dem ebenfalls mit langer Tradition behafteten common law der britischen und irischen Gerichte beruht - und (2) als in vielen einzelnen Gesetzen meist viel neueren Datums verstreutes Vertragsrecht. Aus letzerem Bereich leuchtet neben den vielen Eingriffen in das Vertragsrecht, die überwiegend ?ffentlichen oder überindividuellen Interessen dienen, jene gro?e Gruppe von zwingenden Vertragsregeln heraus, die überwiegend dem Schutz der einen schw?cheren Partei eines Vertrages dienen sollen. Von vertraglichem Mieterschutz und Arbeitnehmerschutz soll hier nicht die Rede sein - wohl aber von jener gerade in den letzten Jahren stark angewachsenen Zahl von vertragsrechtlichen Regeln, die Verbraucher oder die Kunden bestimmter Anbieter schützen. Vertragsrechtlicher Kunden- oder Verbraucherschutz wurde in den Kinderjahren seiner Entwicklung noch als seltene Ausnahme zu den allgemeinen Regeln des Vertragsrechts verstanden. Mittlerweile ist er in vermutlich allen Mitgliedstaaten eher die Regel als die Ausnahme und mu? wohl neben dem traditionellen allgemeinen Vertragrecht als eine zus?tzliche Quelle zivilrechtlicher Prinzipien betrachtet werden. Die meist sondergesetzliche Natur des punktuellen Vertragsrechts mit Schutzcharakter deutet das Problem bereits an: Das neuere Schutzrecht entwickelt sich NEBEN dem gleichbleibenden allgemeinen Vertragsrecht, um dieses herum und über dieses hinaus. Da? es wünschenswert ist, eine st?rkere Verbindung zwischen beiden Bereichen aufzubauen, dafür sprechen die folgenden Argumente: 1) der zunehmende Bedeutungsverlust des allgemeinen Vertragsrechts und die Probleme von punktuellen Einzelgesetzen: aktuelle Entwicklungen wurden ins Sondervertragsrecht verbannt, dem allgemeinen Vertragsrecht kommt nur eine Restkompetenz zu. Das Sondervertragsrecht selbst wird immer unübersichtlicher und leidet an dem Mangel an dogmatischer Durchdringung, Koh?renz und Systematik. 2) Gerechtigkeitsdefizite durch den engen traditionellen Verbraucherbegriff und den punktuellen Ansatz der einzelgesetzlichen Schutzregeln: Hier finden sich Ungleichbehandlungen ohne sachliche Rechtfertigung. 3) Das klassische liberale Vertragsmodell, falls es noch immer das allgemeine Vertragsrecht von mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen beherrscht, bedarf dringend der Erg?nzung und Modifizierung durch neue Prinzipien. 4) die internationale Tendenz, den Schutzgedanken in das allgemeine Vertragsrecht aufzunehmen: Niederlande (NBW), die skandinavischen Staaten, die European Principles of Contract Law der Lando-Kommission (EuPr), die UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts (UniPr), das Treu-und-Glaubens-Prinzip (good faith) als Bestandteil der lex mercatoria des internationalen Handels. Was hat das alles mit einem einheitlichen EG- oder EU-Vertragsrecht zu tun? 1.a. Gegenw?rtig besteht einheitliches bzw. angeglichenes EG-Vertragsrecht nur an einigen Stellen: Es handelt sich ausschlie?lich um zwingendes Vertragsrecht, das dem Schutz einer schw?cheren Partei dient. Quellen sind die EG-Verbraucherschutz-Richtlinien, aber auch andere wie etwa die Versicherungs-Richtlinien, die Handelsvertreter-Richtlinie, die Richtlinie über grenzüberschreitende überweisungen. Zu denken ist weiters an Bestimmungen mit vertraglichem Schutzcharakter in den Gruppenfreistellungs-Verordnungen. b. Will man ein allgemeines EG-Vertragsrecht formulieren, wird man über dieses bereits bestehende EG-Vertragsrecht nicht hinwegsehen k?nnen. 2. Zudem dringen einige der bestehenden Richtlinien oder Richtlinien-Vorschl?ge trotz ihrer Beschr?nkung auf den Verbraucherschutz bereits heute in Kerngebiete des allgemeinen Vertragsrechts vor: z.B. die Klausel-Richtlinie, der Richtlinien-Vorschlag über Verbrauchsgütergarantien. a. Sie führen zu einer nicht unproblematischen Aufspaltung des allgemeinen Vertragsrechts der Mitgliedstaaten bzw. werden durch die divergierenden allgemeinen Vertragsrechte der Mitgliedstaaten, von denen sie oft nicht zu isolieren sind (Stichwort: Klauselkontrolle), in ihrer Wirkung behindert. b. Weiters ist auch aus EG-rechtlicher Sicht fraglich, ob die erw?hnten Bestimmungen, wenn sie für die Verkehrsf?rderung auf dem Binnenmarkt wirklich so notwendig sind (Stichwort: Kompetenz Art 100a EGV = Art 95 EGV nF), auf Verbrauchervertr?ge beschr?nkt bleiben sollten, da ?hnliche Schutzbedürfnisse bzw. Problemlagen auch für den Rechtsgesch?ftsverkehr zwischen Unternehmern bestehen. Mit einer kodifikatorischen Zusammenfassung des verstreuten bestehenden EG-Verbraucher- und sonstigen Schutzrechts kann daher nicht mehr das Auslangen gefunden werden. Die Problematik des allgemeinen Vertragsrechts mu? gel?st werden. 2. Das Ph?nomen der sondergesetzlichen Entwicklungen im überblick Wenn man (aus Raumgründen) von den vielf?ltigen Fragen um Instrumente und Verfahren der Rechtsdurchsetzung sowie der Beweislastverteilung absieht, kann man die Schutzma?nahmen in drei gro?e Bereiche unterteilen: Informationspflichten, Widerrufsrechte und Eingriffe in den Vertragsinhalt. 2.1 Informationspflichten, Werbe- und Verkaufspraktiken Auch in relativ progressiven Verbraucherschutzsystemen, die stark auf inhaltliche Eingriffe in bereits abgeschlossene Vertr?ge setzen, hat der Schutz der Informationslage der schw?cheren Partei (Information, Aufkl?rung, Beratung) weiterhin gro?e Bedeutung und wird best?ndig ausgebaut. Die Informationsproblematik ist mit der Problematik unzul?ssiger bzw. gef?hrdender Werbe- und Verkaufspraktiken eng verbunden. In den meisten Rechtsordnungen gibt es eine Flut von vorvertraglichen Informationspflichten, neuerdings teilweise in Form von zwingenden Inhalten der Vertragsurkunde. Neu sind auch die Tendenz, deren Einhaltung durch Widerrufsrechte des potentiellen Informationsempf?ngers abzusichern, und die Kopplung des Inhalts von Werbeaussagen an die Gew?hrleistungshaftung. Auch die Zahl an Informationen, die w?hrend oder nach der Leistungserbringung zu erteilen sind nimmt zu. Alle diese Tendenzen finden sich auch in EG-Richtlinien. 2.2 Widerrufsrechte Auch die Widerrufsrechte boomen. Allein im ?sterreichischen Recht gibt es weit über 20 sondergesetzliche Widerrufsbestimmungen, die dem Schutz schw?cherer Vertragsparteien dienen. Diese Widerrufsrechte k?nnen nach ihrem Zweck in folgende Kategorien eingeteilt werden: Abschlu?bezogene Widerrufsrechte - dazu z?hlen der Situationswiderruf (Hauptfall: Haustürgesch?ft), der Abwesenheitswiderruf (Stichwort: Fernabsatz), der generelle Typenwiderruf (komplizierte, gewichtige, langfristige Vertr?ge), der Informationswiderruf (ebenso; bei nicht rechtzeitigem Informationserhalt) und der Irrtumswiderruf (vom anderen Partner verla?te Zukunftsirrtümer). Abwicklungsbezogene Widerrufsrechte - dazu z?hlen der Widerruf wegen Vertrags?nderung sowie der kündigungs?hnliche Widerruf. Diese zweckorientierte Typisierung der Widerrufsrechte ist eine wichtige Stütze für die Beantwortung der Frage ihrer Verallgemeinerungsf?higkeit. 2.3 Inhaltliche Eingriffe in den Vertrag Zu den inhaltlichen Eingriffen in den Vertrag z?hlen sowohl die zwingende Festlegung der Rechte und Pflichten der Parteien durch den Gesetzgeber, die regelm??ig dazu dient, die schw?chere Partei des Vertrages zu schützen, als auch die sog. vertragliche Inhaltskontrolle anhand einer Generalklausel bzw. einer diese konkretisierenden Liste mi?br?uchlicher Vertragsklauseln. 3. Die Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Vertragsrecht Bestimmungen mit deutlichem Schutzcharakter finden sich auch im allgemeinen Vertragsrecht der Mitgliedstaaten: Man denke nur an die Prinzipien von Treu und Glauben , bonne foi, buona fede und regole della correttezza, redelijkheid en billijkheid, an die Generalklauseln der guten Sitten, bonnes moeurs, buon costume, goede zeden und an ' 36 des Nordischen Vertragsgesetzes, an die Beschr?nkungen von hohen Vertragsstrafen, von Wucher und seltener von laesio enormis. Allgemeine Informationspflichtklauseln, Werbe- und Verkaufspraktiken-Regelungen und Widerrufsrechte sind in den Zivilrechtskodifikationen hingegen mehr als selten. Eine Analyse des vertraglichen Schutzrechts ergibt, da? dieses regelm??ig aus (A) personenbezogenen und (B) situationsbezogenen Tatbestandselementen zusammengesetzt ist, die in einer Art beweglichen System miteinander verbunden sind: Das Element (A) der personenbezogenen Gef?hrdung l??t sich nicht auf die traditionelle Verbrauchereigenschaft reduzieren, sondern kann ganz allgemein durch das Bestehen einer relativen pers?nlichen "Ungleichgewichtslage" gekennzeichnet werden. Diese Ungleichgewichtslage kann sich aus der Verbrauchereigenschaft ergeben, aber auch aus dem Vertragstyp oder aus anderen pers?nlichen Umst?nden. Die Verbrauchereigenschaft sollte in Zukunft als Beweisregel solcherart fungieren, da? sie verst?rkte Indizwirkung für das Bestehen einer Ungleichgewichtslage entfaltet, die nur in besonders deutlich abweichenden F?llen widerlegt werden kann. Element (A) allein allerdings l?st noch kein konkretes Schutzbedürfnis aus. Dieses kann nur im Zusammenhalt mit besonders gef?hrdenden Situationen (B) etabliert werden. Aus der Vielzahl solcher Gef?hrdungssituationen (B) k?nnen beispielsweise genannt werden: überrumpelung, unsachliche Beeinflussung, übereilung, zu lange Vertragsbindung, Irrtum, einseitige Vertrags?nderung, unausgewogener Vertragsinhalt, Beweisschwierigkeiten. Eine situative Gef?hrdung kann auch so stark sein, da? es zu ihrer Behebung durch das staatliche Vertragsrecht keiner pers?nlichen Ungleichgewichtslage zwischen den Parteien bedarf. Insgesamt gilt: Je st?rker Element (A), desto schw?cher kann Element (B) sein und umgekehrt, um trotzdem den gesetzlichen Schutz auszul?sen. Eine ganze Reihe von im Verbraucherschutzrecht bzw. im sonstigen Schutzrecht entwickelten Regelungen k?nnte verallgemeinert und in das allgemeine Vertragsrecht aufgenommen werden: 1) Eine allgemeine Informationspflicht k?nnte etabliert werden, die auf die besonderen Schutzbedürfnisse schw?cherer Parteien flexibel reagieren kann, und durch eine Liste von Leitlinien und Beispielsf?llen konkretisiert wird, die der Judikatur und dem sondergesetzlichen Recht entnommen werden. Zus?tzlich sollten Aufkl?rungs- und Beratungspflichten zugunsten schw?cherer Parteien normiert werden. Diese Grunds?tze k?nnten auch auf abwicklungsbezogene Informationspflichten in abgeschw?chter Form erstreckt werden. Werbeaussagen sollten in die allgemeine Gew?hrleistungshaftung des Unternehmers miteinbezogen werden. 2) Ein allgemeines Situationswiderrufsrecht, das sowohl erlaubte als auch unerlaubte aggressive Verkaufspraktiken sanktioniert, die die Qualit?t der Zustimmung des anderen Vertragspartners beeintr?chtigen, sollte nicht an der Verbrauchereigenschaft oder der geographischen Verortung des Abschlusses, sondern an den Tatbestand der "überrumpelung" oder "sonstigen unsachlichen Beeinflussung" durch die genannten Praktiken anknüpfen. 3) Eine Umsetzung der Fernabsatz-Richtlinie und insbesondere der darin enthaltenen Informations- und Widerrufsvorschriften sollte im allgemeinen Vertragsrecht erfolgen und nicht auf Verbraucher beschr?nkt bleiben. 4) Generelle Typenwiderrufsrechte erfüllen Zwecke, die auf eine gro?e Gruppe von Vertragstypen, nicht nur auf die bisher damit versehenen wenigen Typen zutreffen. Eine Studie k?nnte all jene komplizierten, langfristigen und belastenden Vertr?ge, auf deren überforderungspotential die Typenwiderrufe zugeschnitten sind, identifizieren. Eine einheitliche abschlu?bezogene Widerrufsm?glichkeit sollte für alle diese beispielhaft oder taxativ aufgez?hlten Vertr?ge im allgemeinen Vertragsrecht normiert werden. Die Widerrufsm?glichkeit sollte mit dem Bestehen einer Unterlegenheitssituation (A) des Geschützen gekoppelt werden. Je komplizierter, langfristiger und belastender die Vertragsbindung ist (B), desto geringere Anforderungen wird man an die pers?nliche Unterlegenheit (A) des Widerrufsberechtigten stellen müssen und umgekehrt. 5) Die bereits bestehenden Informationswiderrufsrechte sollten durch die M?glichkeit eines generellen Typenwiderrufs auch bei Vorhandensein aller vorgeschriebenen Informationen erg?nzt und der vorgeschlagenen einheitlichen (generellen Typen-)Widerrufsregelung eingegliedert werden. Falls man hinsichtlich des generellen Typen- und Informationswiderrufs der Typenaufz?hlung im allgemeinen Vertragsrecht doch eine sondergesetzliche L?sung vorzieht, sollte man dem gemeinsamen Zweck der Widerrufstypen dadurch Rechnung tragen, da? man die diesbezüglichen sondergesetzlichen Vorschriften einander angleicht. 6) Ein allgemeiner Irrtumswiderruf k?nnte den bereits genannten Widerrufsrechten Gesellschaft leisten. Auch wenn ein Unternehmer von seinem Gegenüber dadurch in einen Vertrag gelockt wird, da? letzterer für ersteren wesentliche Umst?nde als wahrscheinlich dargestellt hat, sollte er nicht ohne Schutz bleiben. Dasselbe gilt für einen Vertrag unter Privaten. Also: erleichterte Irrtumsanfechtung durch Widerruf bei Zukunftsirrtum, Veranlassung durch die andere Partei, die einen Informationsvorsprung besa? und daher besonders glaubwürdig erschien (Element A). 7) Auch der Widerruf wegen Vertrags?nderung enth?lt ein allgemeines vertragsrechtliches Prinzip. Die Gew?hrung einer L?sungsm?glichkeit bei einseitiger Ver?nderung wesentlicher Vertragsbestandteile in Zielschuldverh?ltnissen, ist ein auf Nicht-Verbrauchergesch?fte erstreckbares Gebot der Fairness. Für Dauerschuldverh?ltnisse, bei denen bisher nicht in allen F?llen mit dem Bestehen einer angemessen kurzfristigen ordentlichen Kündigungsm?glichkeit zu rechnen ist, sollte ein besonderes Kündigungsrecht für den Fall einseitiger wesentlicher ?nderungen des Vertragsinhalts nach dem Modell des deutschen ' 31 VVG (Versicherungsvertragsgesetz) eingeführt werden. Hier ist eine Abstufung nach der Angewiesenheit einer der Parteien bzw. der besonderen Belastung einer schw?cheren Vertragspartei denkbar. 8) Ebenso sollte an die ausdrückliche Normierung eines allgemeinen ordentlichen Kündigungsrechts für alle langfristigen vertraglichen Bindungen gedacht werden, das zumindest im Falle von Unterlegenheitssituationen zugunsten der schw?cheren Partei zwingend sein sollte. 9) In der Klausel- und Sittenwidrigkeitskontrolle von Vertr?gen sollte sich der auch das Konsumentenschutzrecht einbeziehende allgemeine Ansatz an dem oben beschriebenen beweglichen Modell personen- und situationsbezogener Tatbestandselemente (A,B) orientieren: Je st?rker das Macht- und Wissensgef?lle zwischen den Parteien (A), desto eher wird ein inhaltliches Ungleichgewicht des Vertrages (B) die Zul?ssigkeitskontrolle nicht passieren k?nnen und umgekehrt. Auch das sich beispielsweise in den deutschen Bürgschaftsentscheidungen und in den '' 25a bis 25d des ?sterreichischen KonsSchG (Konsumentenschutzgesetz) entwickelnde Schutzregime für Kreditvertrags-Interzedenten hat mit dem Verbraucherbegriff nur wenig Berührungspunkte und sollte in das allgemeine Vertragsrecht übernommen werden. 10) Sich sondergesetzlich ausbildende grundlegende Neuerungen des vertraglichen Leistungsst?rungs- oder Schadenersatzrechts, wie sie sich im Pauschalreiserecht, in der Produkthaftung, im Richtlinien-Vorschlag über Verbrauchsgütergarantien und bei der Haftung für Werbebotschaften abzeichnen (Timesharing-, Verbrauchsgüter-Richtlinien), sollten die entsprechenden Regelungen des allgemeinen Vertragsrechts nicht unberührt lassen: z.B. einheitlicher Vertragsverletzungsbegriff, verschuldensunabh?ngige Haftung oder objektivierter Verschuldensma?stab, individuell-konkrete Umstandsberücksichtigung, Einbeziehung der Zulieferkette zum Hersteller. Wieweit ansonsten vertragliches Schutzrecht, insbesondere einzelne zwingende Vertragsbestandteile, Informationsvorschriften, Beweisregeln oder Widerrufsrechte, auch weiterhin typenspezifisch und sondergesetzlich geregelt bleiben sollten, kann wie folgt beantwortet werden: Bisweilen mag es sinnvoll erscheinen, schon zu komplexen Rechtsgebieten angewachsene Vertragstypen in einem Sondergesetz zu belassen (z.B. Versicherungsvertrag). Aus Gründen der Sorge um Systematik und Rechtssicherheit dürfen einzelne Aspekte des vertragsrechtlichen Schutzes dann nicht aus der umfassenden sondergesetzlichen Normierung herausgeschnitten werden. Auch sondergesetzlich verankert bleibende Schutzvorschriften k?nnen allerdings auf die Formulierung allgemeinerer vertraglicher Schutzinstrumente Einflu? nehmen. Für andere Vertragstypen, wie etwa den Kreditvertrag, den Timesharingvertrag, Reisevertrag und andere, hingegen w?re eine st?rkere Einbindung in eine allgemeine Kodifikation durchaus wünschenswert. 4. Die Entwicklung allgemeiner Prinzipien Welches sind nun die allgemeinen Prinzipien, die sich aus den geschilderten Vertragsrechtsregeln mit Schutzcharakter ergeben? 1) ein besonderer Schutz bei pers?nlicher Ungleichheit der Partner, 2) die Sorge um das inhaltliche Gleichgewicht des Vertrages beim Abschlu? und auch danach sowie 3) eine Vielzahl von Rücksichtnahme-, Loyalit?ts- und Kooperationsgeboten, darunter auch das Treu- und Glaubensprinzip, zwischen den Parteien in allen Stadien des Vertrages. Die Prinzipien haben eine gr??ere Spannbreite als nur den Schutz der schw?cheren Partei oder das Treu-und-Glaubenprinzip. Um die Kommunikation zu erleichtern, habe ich als überbegriff für diese Prinzipien den Terminus "vertragliche Solidarit?t" gew?hlt. Andere Autoren, vor allem skandinavische wie etwa Wilhelmsson, sprechen auch von "sozialem" Vertragsrecht, das sie einem liberalen oder auch marktfunktionalen Vertragsrecht gegenüberstellen. Anders als etwa bei Ghestins "le juste et l'utile" sollen diese neuen Prinzipien nicht an die Stelle des Prinzips der Vertragsfreiheit, sondern neben dieses treten. Damit tritt die schwierige Abgrenzungsfrage im Falle des Konfliktes zwischen den beiden Prinzipien auf den Plan. 5. Die Geltung des Prinzips der vertraglichen Solidarit?t im Recht der Leistungsst?rungen Das Prinzip der vertraglichen Solidarit?t gilt auch im bisher noch kaum behandelten Abwicklungsstadium des Vertrages, wenn ein pers?nliches Ungleichgewicht der Parteien (Element A) nicht vorliegt. Wir haben es dann und dort überwiegend mit sog. "dispositivem" Vertragsrecht zu tun. Ich werde insbesondere auf das Institut der unvorhersehbaren Ver?nderung von Umst?nden und das Leistungsst?rungsrecht eingehen. Die ?u?ere Grenze für die Einstandspflicht der Parteien für die mangelhafte oder unterbleibende Erfüllung ihrer vertraglichen Leistungspflichten bildet das Institut der unvorhersehbaren nachtr?glichen Ver?nderung der Umst?nde (nach deutscher Terminologie in etwa: Wegfall der Gesch?ftsgrundlage; nach anglo-amerikanischer Terminologie: impracticability, frustration, hardship, excuse; nach franz?sischer Terminologie: imprévision). Wie die diesbezüglichen L?sungen vieler Rechtsordnungen beweisen, ist dieses ein deutlicher Ausdruck des Treu-und-Glaubensprinzips sowie des Prinzips der inhaltlichen Ausgewogenheit der Vertr?ge. Auch der Gedanke des nachtr?glichen Entstehens einer pers?nlichen Ungleichgewichtslage zwischen den Parteien sowie der allgemeine Gedanke der Solidarit?t mit den Interessen des beschwerten Vertragspartners k?nnen dabei ein Rolle spielen. ' 36 des einheitlichen Nordischen Vertragsgesetzes behandelt nicht von ungef?hr die Problematik der anf?nglichen Ungleichgewichtigkeit des Vertrages (auf den Abschlu?zeitpunkt bezogene Inhaltskontrolle) und die Problematik eines erst nachtr?glich entstehenden Ungleichgewichts nach den gleichen Leitlinien. Dem Leistungsst?rungsrecht kommen auch als dispositivem Vertragsrecht Gerechtigkeitsfunktionen zu: Es geht weniger um den Willen der konkreten Parteien, denn der fehlt ja, wenn es zur Anwendung kommt, als um die gerechte Verteilung der Rechte, Pflichten und Risiken zwischen den Parteien aus der heteronomen Sicht des Staates. Bei dieser Verteilung kann die Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen Partners gar kein Fremdwort sein. Es zeigt sich, da? die traditionelle Orientierung des Vertragsrechts am liberalen Willensprinzip eine künstliche Trennlinie zwischen dispositivem und zwingendem Vertragsrecht und zwischen den abschlu?- und den abwicklungsbezogenen Rechtsfragen im Vertragsrecht gezogen hat. Das allgemeine Leistungsst?rungsrecht kann sowohl (1) mit der Problematik der nachtr?glichen Ver?nderung von Umst?nden als auch (2) mit der abschlu?bezogenen vertraglichen Inhaltskontrolle sowie mit den für diese Gebiete geltenden Prinzipien in Verbindung gebracht werden. Erkl?rung für (1): Die Parteien k?nnen bewu?t die Regelung ihrer Rechte und Pflichten dem dispositiven Vertragsrecht überlassen haben. In der Regel wird das aber nicht der Fall sein: Die Parteien werden meist von einer Situation überrascht, die von ihnen ungeregelte Rechtsfragen aufwirft. Ebenso wie bei der unvorhersehbaren Umstandsver?nderung verteilt dann der Staat die Risiken. Erkl?rung für (2): Die Fairness und Ausgewogenheit des Vertrages kann im Vertragsabschlu?zeitpunkt nur soweit beurteilt werden, als er zukünftige Szenarien voraussieht und mitregelt. Unvorhergesehene Umst?nde und alle sonstigen vertraglich nicht geregelten Situationen (wie z.B. vertraglich ungeregelte Vertragsverletzungen), die in der Zukunft eintreten, unterliegen keiner anf?nglichen Inhaltsprüfung, sondern treffen erst sp?ter auf die Fairness-, Solidarit?ts- und Ausgewogenheitsprinzipien des Vertragsrechts. Das - insbesondere beim Fehlen von pers?nlichen Unterlegenheitssituationen viel - weitere Netz der anf?nglichen vertraglichen Inhaltskontrolle, das bekanntlich auch auf L?sungen des dispositiven Rechts zurückgreift, korrespondiert also insofern mit den Prinzipien, die im dispositiven Recht der Leistungsst?rungen zum Ausdruck kommen. Im Fall von typischen Ungleichgewichtssituationen - wie beispielsweise bei Verbraucherk?ufen - kann dieser Spielraum zwischen dispositivem Recht und Inhaltskontrolle ganz wegfallen: Dann fallen das dispositive Leistungsst?rungsrecht des allgemeinen Vertragsrechts und der zwingende Inhalt der Verbrauchervertr?ge zusammen (Beispiele hierfür: ?sterreichisches, niederl?ndisches, skandinavisches Recht). 6. Offene Fragen Wo soll man die Grenze zwischen Vertragsfreiheit und Solidarit?t ziehen, wenn diese kollidieren? Beispiele: 1) Mu? ein Gesch?ftspartner wirklich über alles informiert werden, woran er ein Interesse haben k?nnte? Wieso soll er für das Risiko seiner eigenen Unerfahren- oder Unwissenheit manchmal nicht selbst verantwortlich sein? 2) Wie weit k?nnen Widerrufsrechte gehen, wie lang k?nnen ihre Fristen sein, ohne da? man die Vertragsfreiheit zu sehr beschr?nkt oder gar die Widerrufsberechtigten zu opportunistischem Verhalten einl?dt? 3) Darf der Staat Vertr?ge mit pers?nlich unterlegenen Vertragsparteien, die schon durch alle erdenklichen Informationspflichten und Widerrufsrechte geschützt werden, noch inhaltlich weitgehend diktieren? 4) Darf der Staat zugunsten einer relativ gleich m?chtigen Vertragspartei in den Vertragsinhalt eingreifen, wenn dieser etwa wie bei der laesio enormis oder einseitig sehr langen Vertragsbindungen grob ungleichgewichtig ist oder wenn er durch Umstandsver?nderungen sp?ter grob ungleichgewichtig wird? 5) Darf der Staat eine erst sp?ter unverschuldet in schwere finanzielle Bedr?ngnis geratene Partei von ihrer vertraglichen Leistungspflicht teilweise ent- und die andere Partei durch den Ausfall belasten (Stichwort: social force majeure)? 6) Wie weit sollen im Fall der Leistungsst?rung die Parteien auf die Interessen des jeweils anderen Rücksicht nehmen müssen? Stichworte: Was ist überhaupt eine Vertragsverletzung, ein Mangel, und was nicht? H?he und Sch?rfe des Einstehenmüssens, Recht des mangelhaft Leistenden auf Verbesserung, welche Rechtsbehelfe bei welchen Vertragsverletzungen, opportunistische Vertragsverletzung oder opportunistisches Geltendmachen von Rechtsbehelfen aus Vertragsverletzungen. 7) Kann der K?ufer eines umweltsch?dlichen Produkts, das ihn selbst nicht unmittelbar sch?digt, den K?ufer nach Gew?hrleistungs- oder Schadenersatzrecht in Anspruch nehmen? Kann der Betreiber eines gro?en Supermarkts, der das Herz eines Einkaufszentrums mit sonst vielen kleineren Gesch?ften bildet, dazu gezwungen werden, seinen Supermarkt offenzuhalten, bis ein Nachfolger gefunden wird, um den Schaden für die übrigen Gesch?fte und die Region zu gering zu halten, w?hrend ein normaler P?chter nicht dazu gezwungen werden k?nnte? Bei dem Versuch der Beantwortung dieser Fragen rücken neben der Vertragsfreiheit und Solidarit?t zus?tzliche Aspekte ins Blickfeld: das Funktionieren von Markt und Wettbewerb und damit im Zusammenhang auch die Rechtssicherheit, die Vorhersehbarkeit der Rechtslage für die Marktteilnehmer; zirkul?re oder reflexive Prozesse auf dem Markt, die im Zusammenhang mit der dezentralen Herausbildung von informellen Regeln der Marktpraxis und mit Selbstregulierung stehen. Ein weitere Aspekt ist die Frage der Abgrenzung zu ?ffentlich-rechtlichen Aufgaben des Staates wie z.B. der Sorge um Verteilungsgerechtigkeit, um den Schutz der sozial schwachen Parteien, um dritte Betroffene, die keine Parteistellung im Vertragsproze? haben, um Umweltschutz und vieles andere. 7. L?sung der offenen Fragen mit dem Ordoliberalismus? Ich werde hier nicht auf alle diese Aspekte eingehen. Ich habe mir den Ordoliberalismus, das erweiterte Marktmodell von H. Collins und die Frage der distributiven Gerechtigkeit herausgegriffen. Zun?chst zum Ordoliberalismus: Er bietet sich für ein europ?isches Vertragsrecht auf den ersten Blick deswegen an, weil er gro?e N?he zum wettbewerbsorientierten und marktfunktionalen Denken des EG-Rechts aufweist. Anders als das liberale Modell des Vertragsrechts kann der Ordoliberalismus die postitiven Wettbewerbsfunktionen vieler der oben erw?hnten Schutzbestimmungen einleuchtend nachweisen: Insbesondere vorvertragliche Informationspflichten und abschlu?bezogene Widerrufsrechte sind für den machtfreien Wettbewerb insofern von Bedeutung, als sie die zun?chst ged?mpfte Entscheidungsfreiheit einer ursprünglich schw?cheren Vertragspartei wieder herstellen und sie zu einem ann?hernd vollwertigen Nachfrager machen. Schwieriger ist das Verh?ltnis des Ordoliberalismus (1) zu inhaltlichen Eingriffen in den Vertrag und (2) zum Solidarit?tsprinzip au?erhalb des Schw?cherenschutzes zu erkl?ren: 1) Der Eingriff in den Vertragsinhalt ist eine Regulierung der Marktergebnisse, keine Marktverfahrensregel im Vorfeld einer machtfreien Parteienentscheidung mehr. (Anders formuliert: Die Richtigkeitsgew?hr für den Vertragsinhalt ist nicht mehr nur prozeduraler Natur, sondern stammt auch inhaltlich vom Staat). Die durch übermacht oder AGB-Verwendung beschr?nkte Vertragsfreiheit einer Partei hat sich - trotz aller Vorkehrungen durch Informationen und Widerrufsrechte - bereits in einem konkreten Ergebnis, dem ungleichgewichtigen Vertrag realisiert. Freilich k?nnen die negativen Folgen für die unterlegene Vertragspartei durch den Staat noch begrenzt werden, an der Wettbewerbsst?rung selbst, d.h. der grunds?tzlichen übermacht einer Partei bzw. der Intransparenz der Vertr?ge durch AGB-Stellung ?ndert sich aber wenig. Nicht jede überlegenheit gegenüber der anderen Vertragspartei bedeutet sch?dliche Marktmacht in Sinne des Ordoliberalismus. Die Inhaltskontrolle hat zwei Komponenten: Die verdünnte Willenfreiheit beim Abschlu? und den ungleichgewichtigen Vertragsinhalt. Inhaltskontrolle hat einen Zwittercharakter: (a) Einerseits bek?mpft sie unfreie Entscheidungen bzw. begrenzt die Sch?den, die diese anrichten k?nnen. (b) Andererseits schafft sie Zwang, indem sie Entscheidungsm?glichkeiten auf dem Markt beschr?nkt. Je seltener die Inhaltskontrolle, n?mlich nur bei Extremf?llen verdünnter Willensfreiheit, auf den Plan tritt, desto weniger kommte ihre Zwangsnatur zum tragen. Je h?ufiger und auch je inhaltsbezogener man sie anwendet, desto mehr verbla?t ihre freiheitsf?rdernde Komponente, desto st?rker wirkt ihre marktbeschr?nkende Natur. Vieles spricht daher dafür, die inhaltlichen Eingriffe in den Vertrag aus ordoliberaler Sicht nur als ultima ratio, als Ausnahme für Extremf?lle einzusetzen, ?hnlich der Kontrolle unlauteren Wettbewerbsverhaltens. 2) Warum relativ gleichm?chtige Parteien auf die Interessen des jeweils anderen Teils mehr Rücksicht nehmen sollen, als sie wollen, warum der Rechte-, Pflichten- und Risikenausgleich im dispositiven Recht solidarisch oder anders ausgestaltet sein soll, ist mit den Kriterien des Ordoliberalismus schwer zu beantworten. Wie sieht ein Interessenausgleich im dispositiven Recht aus, der den Wettbewerb f?rdert? Oder sollte man hier auf die Effizienz des Ressourceneinsatzes der ?konomischen Analyse umsteigen? Diese ist, wenn man die klassische ?konomische Analyse samt all ihren neueren Entwicklungen in Betracht zieht, ein ?u?erst dehnbarer Begriff, der je nach angewandter Methode sehr liberale als auch relativ solidarisch akzentuierte Ergebnisse begründen kann. Der Ordoliberalismus scheint jedenfalls, mit Fragen der Reichweite des Prinzips der vertraglichen Solidarit?t in einigen Bereichen des Vertragsrechts nur wenig anfangen zu k?nnen. 8. Das Markt- und Vertragsmodell von Collins und die distributive Gerechtigkeit Im Ordoliberalismus ist die einzige politische Aufgabe, die staatliches Wirtschaftsrecht erfüllen darf und mu?, die Schaffung einer Rahmenordnung für den Markt, mit der Wettbewerbspannen, d.h. die Herausbildung von Marktmacht, beseitigt werden k?nnen. Norbert Reich hat darauf hingewiesen, da? ein Staat modernen Zuschnitts mit dem Recht auch andere gesellschaftspolitische Ziele auf dem Markt verfolgen m?chte. Der Ansatz des Ordoliberalismus sei insofern also zu eng. Dies k?nnte auch auf das Vertragsrecht zutreffen. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Vertragsrecht neben der Sicherung eines machtfreien Wettbewerbs (Kompensation von Marktversagen) auch anderen allgemein gesellschaftlichen Interessen dient. Aus diesen zus?tzlichen Zielen k?nnte sich zweierlei ergeben: 1) da? ein st?rkerer Schutz der schw?cheren Partei notwendig ist, als ihn das ordoliberale Konzept zulie?e; 2) da? solidarische Verhaltensweisen auch im Vertragsrecht relativ gleich-m?chtiger Parteien in gewissem Ma?e wünschenswert sein k?nnen. H. Collins, Professor an der London School of Economics, hat diese Frage mit seinem Modell des "sozialen Marktes" beantwortet: Aus der Sicht des Staates diene das Vertragsrecht dazu, wertvolle Pr?ferenzentscheidungen der Parteien zu unterstützen und ihnen die Sicherheit zur Verfolgung detaillierterer Lebenspl?ne zu bieten. Da der Staat selbst nicht wissen k?nne, was für die Marktteilnehmer wertvoll ist, delegiere er diese Bestimmung zun?chst an die Parteien auf dem Markt. Daneben aber wache er mittels des staatlichen Vertragsrechts darüber, ob die Vertr?ge nicht zu Ausnutzung von übermacht, zu unkooperativem Verhalten, zu ungerechten Verteilungsverh?ltnissen oder zu unerwünschten Lebensformen führten. Dem Staat ist danach nicht nur die Sicherung eines machtfreien und ?konomisch effizienten Wettbewerbs wichtig, sondern auch die Bew?ltigung all jener Risiken, die ein freier Wettbewerb st?ndig für die Lebensformen und M?glichkeiten der Bürger und für kollektive Interessen darstellt. H. Collins schreibt: "What is important is the ability of each individual to pursue a meaningful life, and the fulfilment of that aim may involve some sacrifice to collective prosperity." Da der Staat nicht will, da? jemand ausgenutzt wird, verordnet er Fairness und vertragliche Solidarit?t. Unbeschr?nkte Vertragsfreiheit erlaubt es m?chtigen Vertragsparteien, diese zu ihrem Vorteil zu nutzen und die Güterverteilung in der Gesellschaft zuungunsten der schwachen Marktteilnehmer noch weiter zu verschieben. Der Staat korrigiert, indem er mit vielf?ltigen Mitteln, darunter auch mit inhaltlichen Eingriffen in die Vertr?ge, die Position von schw?cheren Vertragsparteien st?rkt. Auch das dispositive Vertragsrecht reflektiert - diesmal in Abwesenheit von Parteienentscheidungen - die Vorstellungen des Staates von wünschenswerten Vertragsbeziehungen. Das Prinzip der vertraglichen Solidarit?t kann vollst?ndig in das Marktmodell von H. Collins integriert werden. Es findet seine Grenze im gr??tenteils fehlenden Wissen des Staates über wertvolle Pr?ferenzentscheidungen, das nur durch einen funktionierenden Wettbewerb produziert werden kann. Aus diesem Modell ergibt sich die eine zentrale Frage: Führt das freie Spiel der Marktkr?fte oder eher der staatliche Eingriff - bzw. die Kombination mit einem staatlichen Eingriff - zu gesellschaftspolitisch wünschenswerteren Ergebnissen? Das Ziel der Wettbewerbspolitik wird mit dem umfassenderen der Gesellschaftspolitik vertauscht. H. Collins liefert freilich auch kein Kochrezept. Gro?es Wissen um die Funktionsweise von Markt und Wettbewerb ist zur Beantwortung notwendig. Die endgültige Entscheidung ist politischer Natur. Das Modell von H. Collins scheint mir dennoch, eine realistische, sicherlich noch konkretisierungsbedürftige Basis für die Beantwortung der zuvor unter Punkt VI gestellten Fragen sein zu k?nnen. Die Erzielung einer gerechten Verteilung von Gütern ist eines der Kernprinzipien in H. Collins' Modell. Dazu gibt es viele kritische Gegenmeinungen, von denen hier nur zwei besonders aktuelle erw?hnt werden sollen: Die relativ junge US-amerikanische "corrective justice theory", die freilich keine neuen Ideen aufgreift, wendet sich aktuell gegen die verbreitete instrumentelle Rechtsauffassung (die sich ja sowohl in der ?konomischen Analyse als auch im Ordoliberalismus und im Modell von Collins findet). Sie zieht eine scharfe Trennlinie zwischen ausgleichender und distributiver Gerechtigkeit und weist erstere dem Privatrecht, letztere dem ?ffentlichen Recht zu. Das Privatrecht wird als formalistisch und unpolitisch aufgefa?t. Die ausgleichende Gerechtigkeit nimmt eine Vorrangstellung gegenüber der distributiven Gerechtigkeit ein. ?hnliches kann man auch in einem 1997 erschienenen Buch von C.-W. Canaris nachlesen. Richtig ist, da? der Vertrag von vorneherein keine Verteilungssituation im klassischen aristoteleischen Sinn ist, und von seiner Natur her auch kein solidarisches Unterfangen. Er beruht im Grunde auf Interessengegens?tzen und sch?pft aus ihnen einen wesentlichen Teil seiner Kraft. Trotzdem hat das moderne Vertragsrecht der EU-Mitgliedstaaten deutlich distributive, d.h. die zuvor bestehende Verteilungssituation ver?ndernde, Wirkungen. Da? die distributive mit der ausgleichenden Gerechtigkeit im Vertragsrecht nicht kombinierbar ist, erscheint mir nicht einleuchtend bewiesen. Allenfalls wird eine Argumentationslast zugunsten der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung von für Soziallasten angenommen werden k?nnen, die aber in entsprechenden Situationen überwunden werden kann. 9. Fazit Das europ?ische Vertragsrecht wird um eine Einbeziehung von solidarischen Prinzipien nicht umhin k?nnen. Wie ich gezeigt zu haben hoffe, wirft dies eine Reihe von grunds?tzlichen Ordnungsfragen auf, die bisher in den Vorbereitungsarbeiten zu einem europ?ischen Vertragsrecht zu wenig Beachtung gefunden haben. Nur auf die Beantwortung dieser Fragen aufbauend k?nnen Einzelregeln entwickelt werden, die ausreichende innere überzeugungskraft besitzen. Meiner Meinung nach mu? das europ?ische Vertragsrecht solidarischer sein, als dies der Ordoliberalismus zulie?e. In H. Collins' Modell eines "sozialen Marktes" sehe ich einen geeigneten Ausgangspunkt für das Vereinheitlichungsprojekt. Auf die notwendigen weiteren Konkretisierungen sowie auf alle damit zusammenh?ngenden rechtsvergleichenden Aspekte kann in diesem Rahmen leider nicht mehr eingegangen werden, sie müssen weiteren Studien vorbehalten bleiben.